Die drei Männer zogen mich in ihren Bann. Alle drei im fortgeschrittenen Alter, deutlich jenseits der Lebensmitte, aber doch noch nicht wirklich alt. Ernst schauten sie mich an, oder besser: ernsthaft. Das Leben hatte sehr eindrucksvoll Spuren in ihre Gesichter gezeichnet. Offensichtlich, dass es sich um Arbeiter handelte, Bergarbeiter wahrscheinlich.
Noch bevor ich einen der Riesenbagger erblickte, die das eigentliche Ziel meines Tagesausflugs waren, hatten sich die Gesichter dieser drei Kumpel in meinem Gedächtnis festgesetzt. Eine Fassade der hohen, alten Werkstatthalle war nahezu vollflächig mit ihren Porträts bedeckt. Fast hätte ich das Ortseingangsschild verpasst. „Ferropolis. Die Stadt aus Eisen“, las ich im Vorbeifahren und dachte, dass ich das Schild vor der Heimfahrt noch fotografieren müsste.
Nachdem ich vor ein paar Wochen bereits hier vorbeigekommen war, jedoch die Stadt wegen eines OpenAir-Festivals – in diesem Falle wegen des Techno-Festivals Melt! – nicht besuchen konnte, sollte es nun losgehen! Mein schon ein wenig in die Jahre gekommener Autoatlas (Ja, ich benutze noch einen!) wies meinem Zielort als „Baggerstadt“ aus. Selbige ist zwischen Bitterfeld und Dessau in Sachsen-Anhalt gelegen.
An diesem Sommersonntag erreichten wir Ferropolis kurz vor 11 Uhr und schafften es gerade noch rechtzeitig zum Beginn der ersten Führung. Die Gästeführerin, Martina Wormuth, testete uns gleich mal. Ob wir denn wüssten, was auf dem Ortseingangsschild steht: „Ferropolis. Die Stadt aus Eisen“. Das bekamen wir noch hin. Und die dritte Zeile? - Stille in der Teilnehmerschar. Natürlich konnte Frau Wormuth helfen: „Industrielles Gartenreich“.
Der Tag schien wie geschaffen für einen Besuch in Ferropolis: Sommerlich warm, aber nicht heiß, hin und wieder etwas Wind. Blauer Himmel und weiße, zeitweilig auch grauweiße Wolken bildeten einen fantastischen Kontrast zu den markanten Stahlkonstruktionen.
Gleich beim Betreten des Geländes war mir der alte Brückenkran aufgefallen. Nicht bemerkt hätte ich wohl die zahlreichen Schwalbennester, auf die uns unsere Gästeführerin hinwies. Sie klammerten sich in langer Reihe auf der Unterseite der ehemaligen Kranbahn in den verwitterten Beton, durch den bereits etliche Bewehrungsstähle schauten.
Ferropolis befindet sich auf einer Halbinsel im Gremminer See, der durch Flutung des ehemaligen Tagebaus Golpa-Nord entstand. Die Stadt hat heute fünf schwergewichtige, stählerne Einwohner, die auf so klangvolle Namen wie Mad Max, Gemini, Mosquito und Medusa hören. Dabei handelt es sich um zwei Riesenbagger und zwei sogenannte Absetzer aus dem Braunkohlentagebau. Letztere verkippten früher den Abraum auf Halden. Der fünfte im Bunde wurde nach seinem hervorstechendsten Merkmal benannt: Big Wheel. Er präsentiert stolz sein mehr als 8 Meter hohes Schaufelrad, neben dem alle Besucher winzig erscheinen.
Was so beeindruckend ist an Ferropolis, ist nicht die schiere Größe der ausgedienten Technik. Diese fünf Maschinen strahlen Würde aus, Erhabenheit. Man sieht ihnen ihr Alter an und auch, dass sie Jahrzehnte lang schwer gearbeitet haben. Sie sind schnörkellos, kein Teil an ihnen ist überflüssig, alles ist funktional begründet. Das verleiht ihnen eine technische Eleganz und Ästhetik. Aus der Nähe betrachtet entdeckt man immer wieder neue Details, an denen man sich nicht sattsehen kann: Schalter, bei denen ein Tropfen Quecksilber noch den Kontakt herstellte, Spinnweben zwischen rostigem Eisen, die sich im Sonnenlicht abzeichnen, eine völlig verstaubte Maschinistenkanzel, und gelegentlich winzige Bäumchen, die aus den Stahlriesen wachsen. Industriegeschichte wird auch an Inschriften und Schildern („VEM Leipzig“) aus der Hoch-Zeit der Braunkohleförderung erlebbar.
Als wäre die Technik nicht schon eindrucksvoll genug, präsentiert sich diese auch noch vor einmaliger Kulisse: Bagger und Absetzer stehen rings um eine Arena. Auf drei Seiten führen Freitreppen einige Meter hinunter bis zu ihrem Grund, auf der vierten Seite läuft das Gelände zum See hin aus. Steht man auf dem Grund der Arena und erlebt die Riesenbagger aus der Maulwurfperspektive, lässt das die Maschinen nahezu übermächtig erscheinen. Und dann ist da noch der See - und die Aussicht von der Förderbrücke über den See nach Gräfenhainichen!
Nach ungefähr 1,5 Stunden ging die Führung zu Ende. Die Teilnehmer schwärmten in verschiedene Richtungen aus: Einige wollten jetzt nach Wörlitz (Was für ein Kontrast!), wir benötigten erst mal eine Pause und gingen im Orangerie-Restaurant – natürlich mit Blick auf die Riesenbagger - essen. Auch Frau Wormuth erholte sich etwas, ehe für sie um 13:00 Uhr die nächste Führung begann. Nach dem Mittagessen drehten wir auf eigene Faust die Runde durchs Gelände erneut.
Beim Verlassen von Ferropolis verweilte ich noch ein wenig am Ortseingangsschild, um zu fotografieren. Dank Frau Wormuth beachtete ich nun natürlich auch die dritte Zeile auf dem Schild. Und ich las die Rückseite: „Außenkippe Golpa 10 km“. Dorthin brachte man früher den Abraum des Tagebaus. Ich bemerkte weitere großflächige Bergarbeiterporträts, aber die ersten drei hinterließen den stärksten Eindruck. Alle Bilder sind Arbeiten des Street-Art- und Graffiti-Künstlers Hendrik Beikirch (alias „ecb“). Er sprühte hier unter dem Motto „Spuren“ eine monochrome Erinnerung an ehemalige Bergleute auf die Hallenwände.
Fast fünf Stunden dauerte unser Aufenthalt in Ferropolis - Und ich hatte nicht das Gefühl, auch nur annähernd alles gesehen zu haben. Wir beendeten den Ausflug nur deshalb, weil die Wucht der Eindrücke uns übermannt hatte, das Gehirn machte einfach dicht.
Was ich mir noch wünsche, ist das Erlebnis Ferropolis bei Nacht. Die Illumination der Riesenbagger stelle ich mir großartig vor. Derzeit sehe ich zwei Möglichketen, diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen: Die Teilnahme an einem der mehrmals im Jahr stattfindenden abendlichen Drei-Gänge-Menüs im Orangerie-Restaurant oder der Besuch eines Open Air Konzerts. Beides nicht meine bevorzugten Freizeitaktivitäten. Aber vielleicht hat jemand eine andere Idee?
Links
Die Baggerstadt: www.ferropolis.de
Die Gästeführerein: www.info-gaestefuehrung-wormuth.de
Der Künstler: hendrikbeikirch.com