Dort, wo normalerweise die Orgel steht, stand hier – nichts! Nun ja, fast nichts. Es gab einen kleinen viereckigen Tisch mit drei Stühlen, und es gab ein einfaches Regal mit Küchenutensilien. Dennoch: Die Empore war nackt. Sie schien mir die Größe eines respektablen Tanzsaales aufzuweisen. Als die Übernachtungsgäste ihre Lager bereitet hatten, war aus dem Tanz- ein Schlafsaal geworden.
Die Unterkunft war spartanisch, und auf der Empore war es genauso kalt wie draußen. Aber es gab genügend warme Decken, einen elektrischen Wasserkocher und reichlich Atmosphäre! Am Abend begaben sich meine drei zufälligen Mitschläfer ins Kirchenschiff, um zu singen – nicht ohne mich vorher zum Mitmachen eingeladen zu haben - etwas, das ich niemandem zumuten wollte. Also blieb ich auf der Empore, saß dort auf einem der einfachen, in hellem Graublau gestrichenen Holzstühle, fertigte meine skizzenhaften Tagebucheinträge - oder tagebuchartigen Skizzen - an, trank dazu in kleinen Schlucken ein Gute-Nacht-Bier direkt aus der Flasche - und lauschte den drei Sängern.
Ich schlief unruhig in dieser Nacht, erwachte mehrere Male. Bei jedem Erwachen nahm ich die Kälte um mich herum wahr. Immer wieder drohte eine von mehreren Decken, die ich über mich ausgebreitet hatte, zu Boden zu gleiten. Nachdem ich die Decken geordnet, bis kurz unters Kinn gezogen und so gut es ging unter mir festgestopft hatte, registrierte ich die Geräusche, die die romanische Kirche von sich gab. Ich versuchte sie zuzuordnen. Das Läuten der Glocken jedenfalls war es nicht, was mich einige Zeit am Wieder-in-den-Schlaf-finden hinderte. Denn das war hier auf der Empore erstaunlich leise - baumeisterlich so geplant oder durch einen konstruktiven Zufall bedingt. Aber irgendetwas knarzte, raschelte, ächzte, wisperte, klackte immer. War es der Wind, der sich im Dachüberstand verfing, waren es die Mäuse im alten Gebälk und Gemäuer, oder waren es die Zahnräder im Werk der Kirchturmuhr?
Am Morgen erwachte ich zeitig. Zaghaft fiel das Morgenlicht durch die drei kleinen Fenster hoch über der Empore: Ein schlichtes Rundbogenfenster wurde links und rechts von zwei wesentlich kleineren kreisrunden Fensteröffnungen flankiert. In letztere hatten Steinmetze vor Jahrhunderten einen Vierpass eingefügt. Als ich den Blick von diesem romanischen Dreigestirn abwandte und mich auf meiner Campingliege umdrehte, schaute ich auf das von der Decke des Kirchenschiffs herabhängende Kruzifix: Es war rot! Es hatte vier gleich lange Arme, und es war mit einer modernen Interpretation des Gekreuzigten versehen – eine Abstraktion, beinahe skelettartig anmutend und in silbernem Farbton als Relief ausgeführt.
Einige Zeit später brach ich zur nächsten Tagesetappe auf. Ich war überzeugt: Trotz des Abendspazierganges am Fluss entlang mit Blick auf das angestrahlte Schloss und den Dom oben auf dem Domberg, trotz des Besuches von Kreuzgang und Krypta im Dom, wird meine Übernachtung auf der Empore die Erinnerung an diese Stadt bleiben.
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Nachsatz: Wer auch einmal als Pilger eine Nacht auf der Empore verbringen will, ist in der evangelischen Neumarktkirche St. Thomae in Merseburg richtig.