Liebe G.,
ich sitze gerade ziemlich erschöpft auf der Terrasse vom Lingnerschloss in Dresden. Etwas profaner ausgedrückt: Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich im Biergarten. Allein. Ohne Bier. Nur
Zettel und Stift liegen vor mir auf dem Gartentisch, auf dem noch Tropfen des nachmittäglichen Regengusses zu sehen sind.
Du wirst das Lingnerschloss nicht kennen, wir waren meines Wissens nach nie gemeinsam hier, aber sein Biergarten gilt als einer von Dresdens Aussichtsbalkonen. Von hier aus sieht man die Elbe zwischen Blauem Wunder und Waldschlösschenbrücke mäandern und schaut nach Süden über Dresden bis hin zu Osterzgebirge und Sächsischer Schweiz.
Womöglich fragst Du Dich, warum ich alleine hier sitze. - Ich beendete gerade meinen zweiten Fotomarathon. Und diesen fand ich wesentlich schwieriger als meinen ersten (im vergangenen Jahr). Überraschenderweise berichteten einige der Organisatoren des Fotomarathons, andere Teilnehmer hätten ihnen genau das Gegenteil erzählt.
In diesem Jahr waren die fotografisch umzusetzenden Themen allesamt Titel mehr oder weniger bekannter Pop- und Rock-Songs.
Einer davon ist „Losing my religion“ von R.E.M., ein Ohrwurm, den ich während des gesamten Fotomarathons nicht wieder aus meinem Kopf bekam, was mich wohl auch ein wenig in meiner Kreativität blockierte. Doch dazu später mehr.
Los ging es mit „Oops! … I Did It Again“. Da ich keine Ahnung habe, wie der Text weitergeht und was Britney (Spears) vor siebzehn Jahren „schon wieder tat“, war ich bei meiner Motivsuche ziemlich frei. Das machte es nicht einfacher! Ich fuhr ungefähr eine Stunde mit meinem Fahrrad ziellos durch die Johannstadt, ehe ich erstmals den Auslöser betätigte. Das erste Foto war in diesem Jahr eine große Hürde für mich.
„Another Brick in the Wall“ war der nächste Baustein auf dem Weg zum Marathon-Finish. Kaum zu glauben, dass dieser Song von Pink Floyd schon fast vierzig Jahre alt ist und insofern getrost als „Klassiker“ bezeichnet werden darf. Mit diesem Lied verbinde ich durchaus einige nostalgische Erinnerungen… Aber jetzt bloß nicht sentimental werden! Ich muss arbeiten. (Ja, es ist Arbeit, und es macht Spaß.) Ich habe mir vorgenommen, einen Ziegelstein ansprechend in Szene zu setzen. Das gelingt mir bei Regen und in völlig durchweichten Schuhen und Hosen an einer Friedhofsmauer auch recht gut. - Rechte Hand hoch zur linken Schulter und klopfen! ;-)
Den nächsten – bereits erwähnten - Titel „Losing My Religion“ nehme ich wörtlich: Meine Religion verlieren. (Anmerkung: Erst nach dem Fotomarathon erfahre ich aus dem allwissenden Internet, dass es sich um eine sogenannte idiomatische Wendung handelt, die eben nicht wörtlich zu nehmen ist: „Losing My Religion“, schreibt die Wikipedia, „ist ein alter Südstaatenausdruck, der übersetzt so viel bedeutet wie ‚aus der Haut fahren‘ oder ‚die Nase voll haben‘.“) Beim Fotomarathon quäle ich mich mit der Aufgabe, „meine Religion verlieren“ fotografisch umzusetzen. Bei „Religion“ denke ich – natürlich? – zuallererst an Kirche, Kreuz, Friedhof. Aber das „Losing“ macht mir einige Zeit lang schwer zu schaffen, bis ich auch dafür meine Interpretation finde. Erst im Nachhinein bemerke ich, dass ich das Bild im Hochformat aufgenommen habe, was laut den Regeln des Fotomarathons Dresden nicht vorkommen sollte. :-(
„Black or White“ von Michael Jackson ist nun auch schon mehr als ein Viertel Jahrhundert alt. Ein Song, der die Botschaft vermittelt, es spiele keine Rolle, ob Du schwarz oder weiß bist („it don't matter if you're black or white“). Ich assoziiere munter vor mich hin: Black or white, schwarz oder weiß, starker Kontrast, Hell und Dunkel, Sonne und Schatten… - Geht vielleicht auch „Blau oder Gelb“, frage ich mich, als mir auf dem Gelände der Dresdner Stadtreinigung gelbe und blaue Abfalltonnen auffallen, die zu ansehnlichen Türmen gestapelt wurden. Nebeneinander stehend bilden die Türme einen schönen (Komplementär-)Kontrast. Ich entscheide mich gegen das Motiv. Das, was ich schließlich mit meinem Sensor einfange, ist leider nicht besser. :-(
„No limit“. Der Titel sagt mir gar nichts, also übersetze ich ihn und sinniere: Ohne Grenze. Grenzenlos. Ich frage mich: Was ist grenzenlos? Wie fühlt sich grenzenlos an? Und was davon ist bildhaft darstellbar? – Meer, Wüste, Elbe (na ja). Ich entscheide mich schließlich für Blattgrün. :-(
Zwischenstation am Dresdner Backhaus. Ein älterer Herr beendet (!) gerade seinen Wettkampf und fotografiert die beiden Helferinnen des Fotomarathons Dresden, die dort die Aufgabenstellung für die nächsten fünf Themen verteilen, vor einem Eis-Aufsteller. Ich bin von der Schnelligkeit des Fotografen beeindruckt, starte ich doch nun erst zur zweiten Halbzeit.
Ein Blick auf meinen Aufgabenzettel verrät mir, dass als nächstes „Don't Worry, Be Happy“ (Mach Dir keine Sorgen, sei glücklich!) fotografisch umzusetzen ist, ein Titel von Bobby McFerrin. Vor einem Plattenbau fällt mein Blick auf ein dort parkendes Auto, eine alte „Ente“. Auf der Hutablage sind etliche Kuscheltiere aufgereiht, die mir ein Schmunzeln abringen. Da das Glas der Scheibe stark spiegelt, will ich gerade meinen Polfilter herausholen, als die Besitzerin des Autos herbeieilt, um wegzufahren. Nun bleibt keine Zeit mehr für den Filter, ich mache das Bild ohne ihn.
Weiter geht es mit Deep Purple und ihrem Kracher von 1972 „Smoke on the Water“. Rauch auf dem Wasser. Wo gibt es an der Elbe in Dresden einen Schornstein, der am Samstag raucht? Ich habe keine Ahnung. Dann fällt mir meine Thermoskanne ein, die mit heißem Tee gefüllt ist. Zwar raucht der Tee nicht, aber er dampft. Gilt das auch? Ich versuche es. Leider scheitert die – vermeintlich - gute Idee an meinen fotografischen Kompetenzen, sodass auf dem Foto kein Dampf erkennbar ist.
„I can´t get no sleep“ ist wieder so ein Titel, den ich nicht kenne. Ich lasse meinen Assoziationen freien Lauf und frage mich: Warum kann der oder die nicht schlafen? Hat er oder sie vielleicht Liebeskummer – oder Zahnschmerzen? Vielleicht dreht sich der Song aber auch genau um das Gegenteil von Liebeskummer, vielleicht ist er oder sie frisch verliebt und denkt nur an den Einen oder die Eine? Dieser Gedanke inspiriert mich zu einem Foto einer Bronzeplastik auf der Dürerstraße, die offensichtlich aus DDR-Zeiten stammt, vermutlich aus den Sechzigern: Ein Liebespaar, das gemeinsam Trauben isst – und deshalb nicht schlafen kann. Logisch! :-)
Thematisch geht es mit „Blurred Lines“ (verschwommene Linien) weiter. Auch diesen Song kenne ich nicht. Ich habe keinerlei nostalgische Gefühle und kann meine Interpretation der Titelzeile also auf die darin enthaltene Sachinformation beschränken. Mein Motiv finde ich bei einem Springbrunnen, genauer: in ihm. Sein Boden wird von einer markanten, mehrfach geschwungenen Linie aus Naturstein geprägt, die als kleiner Sockel zwei Handbreit aufragt und durch das aufspritzende Wasser des Brunnens verschwommen erscheint.
„Ice, Ice Baby“ von Vanilla Ice wies meinem letzten Bild die Richtung. Die Bildkomposition hierzu hatte ich blitzschnell und glasklar vor Augen - übrigens als einziges Bild meines 2. Fotomarathons. Leider ist das Resultat nicht klar, sondern unscharf. Mein Hirn hatte das Bild wunderbar vorgedacht, meine Hände hatten die Szenerie arrangiert, doch dann fehlte mir die dritte Hand – oder zumindest ein Stativ: In der linken Hand hielt ich das kleine Eis in der Waffeltüte von Willy Vanilli (Danke für den Eis-Gutschein!) und in der rechten Hand hielt ich 600 Gramm Elektronik, Optik und Mechanik. Gewicht und Größe meiner Kamera verhinderten einhändiges Zoomen und behinderten einhändiges Fokussieren. Das mit dem Zoomen bekam ich dennoch hin, indem ich den Bildausschnitt zunächst beidhändig vorwählte. Währenddessen klemmte die Eis-Waffel zwischen Zeigefinger und Mittelfinger meiner linken Hand: Ich hielt sie so fest, dass sie nicht herunterfiel, und so vorsichtig, dass sie nicht zerbrach. Das einhändige Fokussieren erwies sich als wesentlich schwieriger, sodass ich mit nervösem rechtem Zeigefinger versehentlich den Auslöser durchdrückte, obwohl dies doch erst der Moment des Antippens war. Meine Schlussfolgerung: Nächstes Jahr mit Dreibein zum Fotomarathon!
Liebe G., vermutlich wunderst Du Dich, dass ich Dir diesen Brief schreibe. Aber einer der Konkurrenten der „gelben Post“ (wie Oma sie immer nannte) hat für die Teilnehmer am Fotomarathon Gratispostkarten verteilt und einen großen roten Briefkasten aufgestellt, in den wir unsere Karten einwerfen dürfen. Heute – und nur heute! – ist der Versand mit der „roten Post“ für uns „Fotomarathonis“ gratis. Da meine Postkarte bereits nach den ersten beiden Sätzen vollgeschrieben war, hoffe ich nun, dass Dich dieser Brief – kostenfrei! – erreichen wird!
Liebe Grüße
A.
PS: Liebe G., nun, da ich den Brief an Dich beende, frage ich mich, ob Du überhaupt weißt, was ein Fotomarathon ist. Wahrscheinlich nicht. In diesem Fall könntest Du meinen Blog vom letztjährigen Fotomarathon lesen oder wenigstens die ersten Absätze davon. Sofern Du über einen Internetzugang verfügtest. Vielleicht hätte ich Dir zum 80. Geburtstag doch einen Laptop schenken sollen? Aber wir können auch morgen telefonieren. Und darüber freust Du Dich sowieso mehr als über den Laptop.