Als ich in der Kirchgemeinde anrufe und nach einem Pilgerquartier frage, sagt die Dame im Pfarramt, dass das mit dem Pilgerquartier wohl ein Missverständnis sei. Sie vermieteten hier Ferienwohnungen, aber die werde ich sicher nicht wollen – als Pilgerin. „Die sind Ihnen bestimmt zu teuer!“ So, wie sie das sagt, klingt es überhaupt nicht herablassend, sondern sehr verständnisvoll. Also frage ich gar nicht erst nach dem Preis einer Ferienwohnung.
Nach einem Augenblick der Stille fährt sie zögernd fort, wobei ihre Stimme einen leicht singenden Tonfall annimmt: „Wir haben auch schon mal Pilger bei uns im Gemeindesaal schlafen lassen...“ Ihre Stimme verharrt zum Satzende hin relativ weit oben, so als ginge der Satz gleich weiter. Was er nach einer kurzen Pause auch tut: „Also, wenn Sie einen Schlafsack und eine Luftmatratze haben…“ Erneut schwingt der unvollendete Satz eher hoch-tönig aus und mündet in abwartende Stille.
Natürlich habe ich! Am liebsten möchte ich das auch gleich ins Telefon schreien. Da man dies als mitteleuropäisch sozialisierter Erwachsener aber nicht tut, nicke ich nur mit dem Kopf, bis mir klar wird, dass die durch diese Kopfbewegung hervorgerufenen Schwingungen kaum bei meiner Gesprächspartnerin ankommen werden. Also schiebe ich schnell noch ein trockenes „Ja, habe ich“ hinterher. Zwar ist es keine „Luftmatratze“. (Benutzt in den Zeiten sich selbst aufblasender High-Tech-Matten noch jemand Luftmatratzen?) Aber eine extrem leichte Iso-Matte und ein Schlafsack befinden sich in meinem Pilgergepäck.
Die freundliche Dame ergänzt nach meiner Zustimmung zu ihrem Gemeindesaal-Übernachtungs-Vorschlag sogleich, dass es nur ein winzig kleines Problem gäbe: Am von mir gewünschten Übernachtungstag sei gerade Chorprobe im Gemeindesaal. Ich könne also erst nach der Probe schlafen gehen.
Meine Stimmung sackt augenblicklich auf ihr vorläufiges Jahrestief. Und das Mitte Oktober! Das war ja nun nicht gerade mein Plan, lange wach bleiben und einem Chor lauschen oder - alternativ - während der Chorprobe spazieren gehen. Ich bin zwar keine Musik-Banausin, genieße aber bei meinen Pilgertouren gerade die abendliche Stille und das Alleinsein. Andererseits – und hier wird mal wieder meine Neigung zur analytischen Befassung mit Vor- und Nachteilen offenbar - besteht auch eine – geringfügige - Chance, dass es ein interessanter Abend wird. Mit dem Chor und mit mir. Nach einigem Überlegen willige ich schließlich in das Angebot ein.
Und es wird ein interessanter Abend!
Die singenden Damen und Herren haben allesamt nichts gegen meine Anwesenheit bei ihrer Probe. Ich werde im Laufe des Abends mehrfach aufgefordert, sie zu fotografieren und mich zu ihnen zu setzen. Und ich selbst beteilige mich freiwillig an ihren Dehn- und Aufwärmübungen zu Beginn der Probe, jedenfalls solange diese Übungen stumm ablaufen. Als die Gymnastik dann auch den Singapparat betrifft, steige ich schleunigst aus der Gymnastikgruppe aus und mutiere zur Zuschauerin.
Was als Chor angekündigt war, stellt sich übrigens als kleines ambitioniertes Vokalensemble heraus. Ein Bass und vier Damen zwischen Sopran und Alt geben nach Dienstschluss stimmlich ihr Bestes. Hinzu kommt an diesem Abend erstmals ein Musikstudent. Selbiger könnte altersmäßig der Sohn ausnahmslos eines jeden Anwesenden sein. Er liefert hier und heute seine Arbeitsprobe als – möglicher - neuer musikalischer Leiter des Ensembles ab, und er tut dies nach meinem laienhaften Dafürhalten ausgesprochen professionell. Anscheinend sehen das auch die Sängerinnen und der Sänger so, denn Vokalisten und Dirigent sind sich sehr bald einig, dass dieser Abend der Beginn einer längerfristigen Zusammenarbeit sein soll.
Als sich die Probe dem Ende entgegenneigt, sitze ich nicht mehr nahezu unsichtbar in einer Ecke des Gemeindesaales, sondern bin ganz nah dran an den Sängern. Das Vokalensemble verabschiedet sich mit einem eigens für mich gesungenen (Gute-Nacht-) Lied von mir. (Wow!) Ich erweise dem Ensemble meine Reverenz und gebe eine Runde Schokolade aus, meine letzte halbe Tafel Nougat-Schokolade. (Aus meiner Sicht: Ein echtes Opfer. Zum einen, weil es meine Pilger-Not-Ration war. Zum anderen, weil es sich bei Nougat um meine derzeitige Lieblingssorte handelt.) Orgiastischer wird es an diesem Abend nicht.
Nach dem letzten Stückchen Schokolade geht auf einmal alles sehr schnell: Eine Sängerin und der Sänger wollen den letzten Bus erreichen, und der Dirigent hat noch eine Stunde Autofahrt durch das nächtliche Sachsen vor sich. Plötzlich bin ich allein im Gemeindesaal und schreite zum Bettenbau. Matratzen oder Decken gibt es hier tatsächlich keine. Null, niente, nitchewo! Also habe ich bettentechnisch die Wahl zwischen zusammengeschobenen Tischen, zusammengeschobenen Stühlen oder dem Parkettfußboden, so wie er ist. Die Tische wähle ich intuitiv ab. Stattdessen starte ich mit einem etwas gewagten Stuhlexperiment. Gewagt deshalb, weil ich bei jeder Drehung meines auf den Stühlen liegenden Körpers Sorge habe, dass die zusammengeschobenen Sitzmöbel auseinanderdriften und ich im Schlafsack liegend plötzlich krachend auf den Fußboden aufschlage.
Nach einiger Zeit stehe ich auf und versuche, die Stühle mit Hilfe der Schnürsenkel meiner Wanderstiefel im bettentechnischen Verbund zu halten. Schließlich bin ich aber auch mit dieser – beinahe schon ingenieurmäßigen - Lösung unzufrieden und wähle letztendlich kurz nach Mitternacht den harten, aber unverrückbaren und absturzrisikofreien Parkettfußboden.
Das Einschlafen gelingt, das Durchschlafen auch – halbwegs. Und die gut ausgestattete Küche des Gemeindesaales entschädigt mich am Morgen für das harte Nachtlager. - Ich habe schon schlechter geschlafen!