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Eisquerung Baikal: Reine Kopfsache

Ich laufe und laufe und laufe. Der Boden unter meinen Füßen ist weiß.

Ich laufe und laufe und laufe. Der Boden unter meinen Füßen ist milchig trüb.

Ich laufe und laufe und … Der Boden unter meinen Füßen ist – weg.

 

Gerade erst habe ich den rechten Fuß zum nächsten Schritt gehoben. Nun, mitten in der Vorwärtsbewegung, kurz bevor ich ihn wieder absetzen will, zucke ich zusammen und erstarre. Denn unter meinem Fuß ist nichts, nichts als schwarze Leere.

 

Unmittelbar vor dem Absturz in bodenlose Tiefe registrieren meine Sinne eine Fußlänge weiter vorn eine feine weiße Linie. Diese gibt – irrsinnigerweise – Hoffnung, Hoffnung auf Halt. Es gelingt mir, meinen Fuß mit einem Ruck ein Stückchen nach vorne zu reißen - gerade weit genug damit die Zehen über der Linie landen. Geschafft! Ich atme aus, mein Herz klopft in der Kehle. Die Zehen haben Halt auf festen Untergrund gefunden!

 

Natürlich ist das alles reine Kopfsache. Denn hier mitten auf dem gefrorenen Baikal gibt es keinen Abgrund. Die bodenlose Schwärze ist glasklares Eis! Aber ich fühle mich, als liefe ich in  schwindelerregender Höhe auf einer durchsichtigen Platte.

 

Ich habe Höhenangst. - Auf dem Eis!

 

Also appelliere ich an mein Hirn, ich fordere es auf, ich flehe es an, ich bitte es, nicht zu beachten, dass unter mir eintausendsechshundert Meter kaltes Wasser sind, nein, unter mir befindet sich ein ein Meter dicker, unkaputtbarer Eispanzer!

 

Dennoch: Das tiefschwarze Eis zu betreten, kostet mich Überwindung. Bei jedem Schritt. Ich setze den Fuß ganz vorsichtig auf, zunächst nur mit der Fußspitze und taste, ob da wirklich Eis ist. Erst wenn ich mir ganz sicher bin, belaste ich den Fuß mit dem Gewicht meines Körpers.

 

Das geht zwei Tage so. Am dritten Tag tut mein Hirn endlich, worum ich es gebeten habe. – Und das Laufen auf schwarzem Blankeis wird zum reinen Genuss!