Als ich im Juni die Ausrüstungsgegenstände für die Wanderleiterausbildung besorge, frage ich mich, ob der Lehrgang überhaupt stattfinden wird (Corona!) und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Am 1. Juli erhalte ich Post vom DAV und erfahre, dass es drei Wochen später für mich an den Spitzingsee gehen wird. Für die Fahrt nach München darf ich dank der Kulanzregelung der Bahn sogar noch eine alte, bis zum 9. Mai gültige Fahrkarte verwenden.
Hinkommen und Ankommen
Eine Reise nach Bayern ist für mich eine Reise in eine andere Welt: München überrascht mich mit der Omnipräsenz der Corona-Maske. (Ein paar Tage zuvor durchwanderte ich die Sächsische Schweiz. Dort spielte die Maske kaum noch eine Rolle.) Bei der Fahrt mit der Bayrischen Oberlandbahn erblicke ich die erste Dirndl-Frau. Sie steht in Holzkirchen am Gleis. Und im DAV-Haus am Spitzingsee gibt es für zwei Euro fünfzig bayrische Gemütlichkeit in Form einer Flasche Hefeweißbier aus dem Automaten.
Der Weg von der Bushaltestelle am Spitzingsee zum DAV-Haus gilt als leicht. Allerdings erweist sich der letzte Abschnitt dieses Weges als steiler, lehmiger Bergpfad. Ihn mit Schlappen und schwerem Gepäck (ein prall gefüllter 60l-Rucksack hinten, ein 30l-Rucksack vorne) zu erklimmen, wird für mich die erste Herausforderung der Ausbildungswoche ;)
Der erste Abend dient dem Kennenlernen: Unsere Ausbilder sind Helmut („Heli“) und Jürgen. Axel widmet sich dem Naturschutz und bleibt nur zwei Tage. Die Teilnehmer*innen (sechs Frauen und neun Männer) kommen aus Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachsen. Die Altersspanne reicht von Mitte zwanzig bis Mitte siebzig.
Stresstest
Der Montag beginnt mit Theorie. Wir erlernen, eine Wanderung akribisch zu planen, was Distanz, Aufstieg und Abstieg betrifft. Im Ergebnis liegt die Laufzeit vor. Um 10:00 Uhr starten wir zu der von uns geplanten Wanderung in zwei Gruppen. Eine begleitet Heli, die andere Jürgen. Axel wechselt nach der Mittagspause von einer zur anderen Gruppe. Er macht uns bekannt mit Mähdesüss, Wildem Majoran, Thymian, Rossminze und sogar einer fleischfressenden Pflanze (Alpenfettkraut).
Jürgen lässt sich von uns die aktuelle Position auf der Karte zeigen. Natürlich nimmt jeder den Zeigefinger. Aber: Das ist zu ungenau. Ein durchschnittlicher Zeigefinger deckt auf der Alpenvereinskarte eine Fläche von 250x250m ab. Besser: Einen Grashalm oder einen Zahnstocher verwenden. (Aha!) Während der Wanderung zu Rosskopf (1.580m) und Stolzenberg (1.609m) bremst uns Jürgen immer wieder: Ein*e Wanderleiter*in muss dafür sorgen, dass auch wirklich jeder aus der Gruppe gut mitkommt!
Nach dem Abendessen widmen wir uns erneut der Theorie. Zunächst dem Thema Umwelt und Naturschutz. Danach planen wir in Kleingruppen die Tour für den nächsten Tag. Mittlerweile ist es fast Zehn. Die Konzentration ist bei allen am Ende. Ich kann die Höhenlinien nicht mehr erkennen und verzähle mich ständig. Also beenden wir die Tourenplanung, auch wenn sie nicht perfekt ist. Ich falle tot müde ins Bett - und kann nicht einschlafen. Mein Hirn ist überreizt.
Erkenntnis des Tages: Als Wanderleiter*in musst Du so langsam gehen, dass Du fast verzweifelst.
Stockeinsatz
Die heutige Wanderung führt uns unter anderem zur urigen Freudenreich-Alm. An einem Steilhang hinter der Alm führt uns Heli den richtigen Stockeinsatz vor. Leicht und elegant hüpft er mit zwei Trekking-Stöcken den Abhang hinunter, nur seine Fußballen berühren den Boden. Später zeigt er uns den Umgang mit dem langen, einteiligen Wanderstock. Den hat er sich zuvor von der jungen Alm-Wirtin geliehen. Dann sind wir dran. Wir üben sowohl klassisch einteilig als auch mit zwei Teleskopstöcken. Mit Helis B-Note kann niemand mithalten.
Wir laufen weiter und schließlich durch ein Waldstück steil bergauf zur Rainer-Alm. (Das nennt sich „Orientierung in weglosem Gelände“.) Die Alm-Wirtin ist nicht amüsiert ob unserer Wegführung. Sie fragt, wer wir sind, woher wir kommen und warum wir nicht auf den Wegen bleiben. Heli erklärt den Ausbildungscharakter unserer Wanderung. Seine Antwort befriedet die Dame – etwas. Danach ist sie zumindest bereit, uns Getränke zu verkaufen.
Als Axel kommt, verwickelt er die Wirtin in ein Gespräch und kann für alle eine Kostprobe ihres Käses erwerben. Dieser kommt auf einem Porzellanteller mit handgemalten blauen Enzianblüten daher. Axel steuert aus seinem persönlichen Vorrat noch etwas Hirschsalami bei. Käse und Salami ergeben beinahe eine vollständige Brotzeit, sofern man nicht Veganer*in ist.
Schon gegen 15:30 Uhr sind wir zurück im DAV-Haus. Ich finde, die beste Zeit, um - nach einer Dusche – gemütlich einen Kaffee zu trinken. Ab 17 Uhr folgt eine Theorie-Einheit zu Wetter und Wetter-Apps. Und nach dem Abendessen eine weitere Theorie-Einheit. Um Acht ist dann wirklich Schluss. Das war heute ein entspannter Tag - von 7 bis 20 Uhr!
Erkenntnis des Tages: Der beste Wanderstock ist der Einteiler.
Halbzeit
Heute, am Mittwoch, ist Schlechtwetter- und Ruhetag. - So schlecht ist das Wetter gar nicht. Und auch der Begriff „Ruhetag“ ist relativ und bedeutet: Heute steht keine Wanderung an. Also frühstücken wir erst um Acht. Danach sitzen wir im Seminarraum und befassen uns mit Wetterkunde. Den meisten von uns raucht der Kopf. (Die vielen Wolkenarten!)
Den Theorie-Block zur Ersten Hilfe führt Heli auf der Terrasse durch. Die Praxis absolvieren wir an einem Hang zwischen Unterkunft und Spitzingsee. Das bringt uns viel Publikum ein. Wir lernen, mit Trekkingstöcken und Biwaksack eine behelfsmäßige Trage zu bauen. Und wir haben die Aufgabe, uns als Gruppe vor einem Wärmegewitter in Sicherheit zu bringen. Nach einer kurzen Diskussion darüber, ob man unter Bäumen Schutz suchen darf oder nicht, entscheiden wir uns dafür. Wir steigen paarweise in die Biwaksäcke. Meiner ist ein Ultra-Leicht-Biwak (heißt: eine riesige „Alu-Tüte“). Meinem Partner und mir bricht sofort der Schweiß aus, der Biwaksack wird gleich mehrfach von Zweigen und Ästen durchbohrt. Ist wohl eher als Not-Biwak für den einmaligen Gebrauch gedacht. Blöd nur, dass mein Biwak-Sack geliehen war :( Am Abend folgt ein weiterer Theorie-Block und später die Tourenplanung für den nächsten Tag. Die meistern wir nun schon routiniert.
Erkenntnis des Tages: Eine Wanderleiterausbildung ist kein Urlaub.
Hoch hinaus
Bereits beim Aufwachen bin ich nervös. Für heute hat Heli eine Tour angekündigt, bei der es höher hinauf geht und steiler werden soll als an den vorangegangenen Tagen. (In Mittelgebirgen fühle ich mich sicher, als Alpinistin bin ich nur gelegentlich unterwegs.) Vor dem Start der Tour übernehme ich den Ausrüstungscheck der Gruppe und führe dann über den Taubenstein (1.692m) bis zum Rotwandhaus (1.737m). Am Taubenstein gibt es die erste leichte Kraxelei und ich verlaufe mich beinahe. Die Gruppe hilft.
Auf der Rotwand (1.884m) machen wir Mittagspause und arbeiten danach intensiv mit Karte, Planzeiger und Kompass. Die Sonne macht uns heute sehr zu schaffen. Der Abstieg von der Rotwand auf den Sattel ist steil, die Steine sind rutschig. Ich bin die Schwächste in einer starken Gruppe. Der Abstieg fordert meine volle Konzentration. Als wir am späten Nachmittag wieder in unserem Basislager sind, hält Jürgen seinen Vortrag über Materialkunde. Jetzt wissen wir, was wir uns nach der Wanderleiterausbildung noch kaufen müssen.
Wie jeden Tag steht nach dem Abendessen die Tourenplanung für den nächsten Tag an. In diesem Falle also für den Prüfungstag. Raphael fragt mich: „Wollen wir zusammen messen?“ Meine Antwort: „Ja, gerne!“ - Das ist ja schon fast ein Wanderleiter-Date ;) Gegen 21 Uhr steht unsere Planung. Es folgt ein Partnerwechsel: Mit Nele bereite ich mich noch eine halbe Stunde auf die Prüfung vor. Wir widmen uns den Wolkenarten. Um halb zehn passt kein Wölkchen mehr ins Hirn. Wir stellen das Lernen ein. Danach trinke ich erstmals in meinem mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Leben eine "Russ’n Halbe" (Hefeweißbier mit Zitronenlimo, eine Art Bayrisches Radler). Dabei benutze ich – und auch das ist Premiere - den Bier-Automaten.
Erkenntnis des Tages: Karte, Kompass und Planzeiger (!) sind trotz GPS sinnvoll.
Tag der Entscheidung
Freitag ist Prüfungstag. Frühstück gibt es bereits um sieben, weil heute die längste Tour ansteht und weil es ein besonders heißer Tag werden soll. Um 8 Uhr starten wir in zwei Gruppen. Es ist ein bisschen wie früher in der Schule: Die Frauen sind aufgeregt, obwohl sie gestern besonders lange gelernt haben. Die Männer sind gelassen. Oder tun sie nur so?
Nach einem Anstieg von 200 hm machen wir im Schatten der Oberen Firstalm die erste Pause. Jürgen nutzt die Gelegenheit für einen schriftlichen Test. (Hier eine Auswahl seiner Fragen: Welche Wolken seht Ihr gerade am Himmel? Wie werden ein Sattel, ein Rücken und eine Doline in der Karte dargestellt?) Wir steigen weiter auf und zweigen bald in Richtung Freudenreichkapelle ab. Die kleine hölzerne Kapelle steht exponiert da und ist unbedingt ein paar Fotos wert. Der folgende Abstieg ist steinig und feucht mit vielen Wurzeln. Meine Trittsicherheit ist nicht die beste. Daher laufe ich direkt nach dem jeweils Führenden. Wir pausieren auf der Ankel-Alm. Dort gibt es ein herrliches Klo - mit Aussicht. Bei Gluthitze laufen wir fast 400 hm rauf zur Brecherspitz (1.683m). Raphael führt. Alle schwitzen. Ich schnaufe. Jürgen bremst. Dann nehmen wir den Weg über den Grat, hier sind Schwindelfreiheit und Trittsicherheit gefragt. Eine besonders ausgesetzte Stelle ist drahtseilversichert. Die Gratquerung ist einfacher als gedacht.
Schließlich führe ich die Gruppe auf einem einfachen (!) Weg ins Tal. Gegen 17 Uhr erfahren wir unsere Prüfungsergebnisse. Alle haben bestanden! Am Abend sitzen wir bei hochsommerlichen Temperaturen auf der Terrasse und reden, trinken und spielen Karten. Die letzten gehen um zwei ins Bett.
Erkenntnis des Tages: Ich muss an meiner Trittsicherheit arbeiten!
Rückblick und Ausblick
Es war eine sonnige Woche, eine anstrengende Woche. Der Wissenszuwachs ist enorm. Die Hosen sitzen lockerer als bei der Ankunft :) Viele Teilnehmer*innen wollen mit dem Trainer C Lehrgang weitermachen. Kati verspricht, eine WhatsApp Gruppe einzurichten. – Samstag früh sind alle ganz schnell weg. Zuletzt setzt sich unsere Fahrgemeinschaft in Bewegung – über Schliersee und Starnberger See zum Münchner Hauptbahnhof. (Danke, Stepan!) Und ich? Ich bin gut gewappnet, um Wanderungen in der Sächsischen Schweiz anzubieten, die auf die speziellen Bedürfnisse von Fotografen Rücksicht nehmen.